„Ich brauche noch viel mehr Wut!“

Ein Nachbericht zum Café Humanity am 8. September in Ottobeuren.

Unser Bundestagskandidat Daniel Pflügl und der OV Ottobeuren luden am 8.9. ein zum Café Seenotrettung mit SeaEye-Vertreter Jan Ribbeck und Gülseren Demirel, MdL, um über Flüchtlingspolitik zu diskutieren und auch mehr über die politischen Hintergründe und Gefahren für die meist ehrenamtlichen Retter auf See zu erfahren.
Für Live-Musik sorgte der beliebte Ottobeurer Künstler Achim Haller. 

Schon in seiner Begrüßung warf Daniel die Frage auf, „wo, verdammt nochmal, ist unsere Menschlichkeit geblieben?“ Gülseren Demirel, Sprecherin der grünen Landtagsfraktion für Integration, Flucht, Asyl und Vertriebene schilderte ihre Erfahrungen im Landtag mit Abschiebungen. Seitens der Regierung würde immer behauptet, die Abgeschobenen seien Straftäter, „Vergewaltiger“. Die Landtagsfraktion der Grünen habe immer wieder abgefragt, wer abgeschoben würde und es habe sich jedes Mal herausgestellt, dass es in der Regel junge Männer seien, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen. Im Gegenteil, es seien zum Beispiel Altenpfleger, die eine Ausbildung begonnen oder gar beendet hätten, die Deutsch gelernt haben – und nun trotzdem ausgewiesen würden.

Erst spät gab es in Bayern die Anweisung des Innenministers, Joachim Herrmann,  Ermessensspielräume auszunutzen und nicht mehr abzuschieben, da das Auswärtige Amt in Berlin bekanntermaßen seinen Lagebericht zu Afghanistan viel zu spät aktualisierte. In Schwaben gab es allerdings mit dieser Anweisung Probleme, da die zentrale Ausländerbehörde, die unter Söder einzig zum Zweck von Abschiebungen eingeführt wurde, sich über die Anweisungen des Innenministeriums einfach hinweg setzte.
Demirel erläuterte zudem, was es mit der Petition #bayernnimmtauf auf sich hat: „Nach einem 5-tägigen Besuch in Moria vor zwei Jahren wurde ich die Bilder nicht mehr los.“ Die Initiatoren der Petition (Landesverband Grüne Bayern, SPD, DieLinke, SeaEye, SeaWatch und auch namhafte Künstler wie Luise Kinseer) möchten mit der Petition gesellschaftlichem Druck auf die Abgeordneten des Landtags ausüben, weil ein Konsens innerhalb des Parlaments nicht möglich war. Noch bis Jahresende werden Unterschriften gesammelt, um diese dann im Landtag einzureichen. Viele Kommunen hätten sich bereit erklärt, Flüchtlinge aufzunehmen, die Landesregierung verhindere eine Aufnahme allerdings. 



Demirel prangerte weiter an, dass wir unser Potenzial nicht nutzen. Deutschland sei bereits ein vielfältiges Einwanderungsland, was uns sehr viele Möglichkeiten im Hinblick auf das volkswirtschaftliche Potenzial biete. Immer noch sei der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund an den Förderschulen bei 50%. Als Beispiel nannte sie den Gründer von BioNtec, Uğur Şahin, dem nach der Grundschule der Zugang zum Gymnasium zunächst verwehrt wurde „Was wäre das für eine Katastrophe gewesen, wenn dieser Mann nicht studiert hätte? Wenn er nicht dem Impfstoff gegen Covid entwickeln hätte können?“

Jan Ribbeck berichtete, dass die Akzeptanz damals, als er anfing, sich ehrenamtlich bei SeaEye zu engagieren, nicht groß gewesen sei und viel Unverständnis herrschte, warum er als Arzt in der Seennotrettung half. Doch genau durch diese, so beschreibt er, wurde er zu einem politischen Menschen. Die letzten Jahre verbringe er seinen Jahresurlaub zu einem Großteil auf dem Mittelmeer, um mit den Schiffen von SeaEye Menschenleben zu retten.
Ribbeck berichtete außerdem von den Repressalien, denen SeaEye sich ausgesetzt sehe: hohe Sicherheitsstandards, die das Außenministerium fordere, die die Einsätze extrem verteuerten, wochen- und monatelange Festsetzungen der Schiffe, die horrende Summen kosteten und letzten Endes die Gleichstellung mit Schlepperbooten, was zur Folge habe, dass sie auch auf See von der lybischen Küstenwache beschossen würden, die mit durch die EU finanzierten Schnellbooten meist überlegen seien.
Er schilderte, wie die Flüchtenden schon beim Anblick einer von Frontex oder der Küstenwache eingesetzten Drohne in Panik über Bord springen – obwohl sie nicht schwimmen könnten. Psychologische Betreuung sei daher wichtiger Bestandteil der Einsätze – besonders nach einem Einsatz. „Ich brauche noch viel mehr Wut!“ so schildert Ribbeck sein Empfinden. Die Wut sei so groß, dass die Tragik der Schicksale nicht zu nah an ihn heran komme, sonst könnte er diese Arbeit nicht leisten.

Auf Nachfrage eines Gastes, ob diese menschenverachtenden Vorfälle auf See nicht dokumentiert würden, erklärte Ribbeck, dass dies bereits durch Menschenrechtsorganisationen geschehe, aber dass diese Berichte bei den  entsprechenden Behörden und im Auswärtigen Amt dann in Schreibtischschubladen verschwinden würden.

Ribbeck und Demirel forderten abschließend übereinstimmend einen dritten Baustein für geordnete Zuwanderung nach Deutschland: ein Einwanderungsgesetz. Stattdessen schaffe man in anderen Ländern Einrichtungen, wo man Menschen anlerne, um sie dann nach Deutschland zu holen. Es giäbe Studien, die berechnet hätten, dass wir durch den Fachkräftemangel 50.000 bis 60.000 zugewanderte Menschen in Deutschland pro Jahr brauchen. Auch die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention müsse unbedingt wieder Priorität haben.

„Wie absurd und dumm ist es, wenn diejenigen weggeschickt werden, die unsere Sprache gelernt haben, eine Schule besucht haben, in Ausbildung stehen?“ schloss Gülseren Demirel ihren Appell an die Zuhörenden.

Das Unterschreiben der Petition #bayernnimmtauf ist auch online möglich!

Beitragsbild ganz oben: SeaEye e.V.